Vom anonymen Krankenschein zum Krankenschein für Alle!
Das gleiche Recht auf Zugang zu gesundheitlicher Versorgung ist nur als öffentliches Gut denkbar. Bleibt der Zugang zu Gesundheit an die Kräfte des Marktes gekoppelt, entpuppen sich Rechte als das, was sie heute leider in zunehmendem Maße sind: Rechte, die zwar für alle gelten sollen, die sich aber nur die Betuchten und Privilegierten leisten können. Das gilt nicht nur für die Armutszonen des globalen Süden, wo eine Mehrheit der Bevölkerung von gesundheitlicher Versorgung weitgehend ausgeschlossen ist. Privatisierung, Zwei bis Dreiklassenmedizin und fehlender Zugang prägen zunehmend auch die Realität im reicheren Norden. Es ist höchste Zeit, Gesundheitsfürsorge als Teil einer »sozialen Infrastruktur« zu konstituieren, die Gesundheit als ein globales öffentliches Gut begreift, das allen verfügbar sein muss. Dafür streiten Gesundheitsinitiativen in aller Welt. Ein positiver Bezugspunkt ist dabei häufig die 1978 im sowjetischen Alma Ata organisierte WHO Konferenz on Primary Health Care. Damals wurde in einem einzigartigen historischen Momentum über genau jenes unveräußerbare Recht auf Gesundheit in einer Weise debattiert wie es heute kaum mehr möglich scheint. Mit Nachdruck wurde auf den Zusammenhang von sozio-ökonomischen Verhältnissen und Gesundheit hingewiesen und eine stärker an der sozialen Umwelt der Menschen orientierte, partizipatorische Medizin gefordert. Die aus dem Schoße der Weltgemeinschaft formulierte Forderung nach einer neuen ökonomischen Weltordnung, als verklausulierte Kapitalismuskritik ist vielleicht stärkster Ausdruck dieses einmaligen Policy-Fensters. Resultat der Konferenz waren das Konzept der Primary Health Care und eine Deklaration, die mit ihrem utopischen Charakter ("Health for all by the year 2000") vielen Ländern als wegweisende Roadmap für die Organisierung ihrer Gesundheitssysteme diente. Seit der Konferenz sind über dreißig Jahre vergangen. Wenn in der Öffentlichkeit heute über Gesundheit gesprochen wird, scheint es gesellschaftliche Einflussfaktoren gar nicht zu geben. Im Gegenteil, Gesundheit wird als individuelle „Ressource“ angesehen, deren Erhaltung bzw. (Wieder-) Herstellung in der Verantwortung des Einzelnen liegt. Employability, Risikofaktorenmanagement und Wellness sind die Schlagworte um die sich die öffentliche Diskussion dreht. Medizin wird so zunehmend individualisiert.Auf staatlicher Ebene findet dieser neoliberale Rollback seinen Ausdruck in der Debatte um Kopfpauschale und Privatisierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Die Kampagne für einen anonymisierten Krankenschein greift den Ansatz von Alma-Ata, den Versuch das bereits 1976 im UN-Sozialpakt formulierte Recht auf Gesundheit mit konkreten Konzepten und Maßnahmen durchzusetzen, am eklatantesten Unrecht der hiesigen Verhältnisse auf. Denn Menschen ohne Papiere oder mit ungesichertem Aufenthaltsstatus können in Deutschland allenfalls eingeschränkte Akutversorgungen in Anspruch nehmen oder sie bleiben wegen der Meldepflichten und damit einhergehender Abschiebedrohung gänzlich ausgeschlossen. Eine Realisierung des anonymen Krankenscheins würde hingegen die gleichberechtigte Integration der Illegalisierten in das hiesige Gesundheitssystem ermöglichen und damit auch einen Schritt in Richtung Anerkennung der Existenz und Rechte der irregulären MigrantInnen bedeuten. Das Konzept des Anonymisierten Krankenscheins orientiert sich dabei an der Forderung Recht auf Rechte, welche Menschen Auffordert sich ihre verwehrten Rechte selbst anzueignen. Es geht dabei um eine Wiederaneignung des Rechts auf Gesundheit, welches zunehmend mehr Menschen verwehrt bleibt.
Das Konzept des anonymen Krankenscheins ist ein Aufruf diese Philosophie der alltäglichen Revolte und Sabotage zu unterstützen. Es unterscheidet dabei bewusst nicht nach Status oder Nationalität und ist deshalb auch kein exklusives Projekt für eine Minderheit. Vielmehr richtet es sich an alle Menschen, denen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt bleibt. Und das mögen nicht versicherte neue EU-BürgerInnen sein oder auch Menschen mit deutschem Pass, die aus verschiedensten Gründen über keinen Versicherungsschutz verfügen. Der anonyme Krankenschein verweigert jede Hierarchisierung und fordert letztlich den Krankenschein für Alle. Er ist eine Kritik an dem Gesundheitsbegriff des Fordismus mit seinem an die Lohnarbeit gekoppelten sozialen Sicherungssystem und an dem Verständnis von Gesundheit im postindustriellen Zeitalter, mit ihrer Bioethik und ihrem individuellen Vorsorgeimperativ. Der anonyme Krankenschein steht nicht nur für einen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer globalen Anerkennung des Rechts auf gleichen Zugang zu Gesundheit. Er ist gleichzeitig eine Metapher, um Priviliegien und Ungleichheiten in Frage zu stellen und die gesellschaftliche Neuorganisation in einem konkreten Feld im Sinne gleicher globaler sozialer Rechte auf die Tagesordnung zu setzen.